„Nicht bloß geben, auch berühren“

Adventliche Überlegungen zum Heiligen Jahr der Barmherzigkeit von Kbr. Dr. Gregor Jansen v. Phoebus (SOP), Kartellseelsorger.

Im Adventlied „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ (GL 218) heißt es in der zweiten Strophe: „Er ist gerecht, ein Helfer wert. Sanftmütigkeit ist sein Gefährt, sein Königskron ist Heiligkeit, sein Zepter ist Barmherzigkeit; all uns’re Not zum End er bringt, derhalben jauchzt, mit Freuden singt. Gelobet sei mein Gott, mein Heiland groß von Tat“.

Am 8. Dezember, dem 50. Jahrestag des Abschlusses des Zweiten Vatikanischen Konzils, beginnt mit der feierlichen Öffnung der Heiligen Pforte im Petersdom das von Papst Franziskus ausgerufene „Heilige Jahr der Barmherzigkeit“. Der Begriff „Barmherzigkeit“ kommt in unsrem alltäglichen Sprachgebrauch nicht mehr allzu häufig vor. In Wien denkt man am ehesten noch an das „Haus der Barmherzigkeit“, also an die Pflegekrankenhäuser, Pflege- und Behindertenhäuser, die es in Wien und Niederösterreich an unterschiedlichen Standorten gibt. Ansonsten ist von Barmherzigkeit nur selten die Rede. Vielleicht auch, weil dem Begriff immer etwas vom mitleidigen „Almosen geben“ denen, die erbarmungswürdig oder gar „erbärmlich“ sind, anhaftet. Hier kommt ein klares Gefälle vom Gebenden zum Empfangenden zum (sprachlichen) Ausdruck. Wir sprechen daher eher von sozialer Gerechtigkeit oder Entwicklungszusammenarbeit. All diese Aspekte gehören natürlich zur Barmherzigkeit dazu, aber machen sie noch nicht wirklich aus.

Laut Kardinal Walter Kasper sind Mitleid und Gerechtigkeit Voraussetzung der Barmherzigkeit, aber noch nicht deren Vollendung: „Es bedeutet auf jeden Fall mehr als reines Mitleid. Wir sollen nicht kalt sein gegenüber anderen Menschen. Aber zur Barmherzigkeit gehört ein aktives Element: dass man sich für etwas einsetzt. Die Gerechtigkeit ist das Minimalmaß, wie man sich verhalten muss gegenüber anderen. Die Barmherzigkeit ist das Maximum.“ (Interview in „Die Zeit“ Ausgabe 51/2013)

Barmherzigkeit ist somit vor allem eine Haltung bzw. mit Thomas von Aquin eine Tugend, ja sogar „die größte der Tugenden. Denn es gehört zum Erbarmen, dass es sich auf die anderen ergießt und – was mehr ist – der Schwäche der anderen aufhilft; und das gerade ist Sache des Höherstehenden. Deshalb wird das Erbarmen gerade Gott als Wesensmerkmal zuerkannt; und es heißt, dass darin am meisten seine Allmacht offenbar wird“ (Summa Theologiae II-II, q. 30, a. 4). Zunächst einmal ist also Gott barmherzig. So sehen es auch andere große Religionen, etwa der Islam, der Gott die Titel „Allerbarmer“ bzw. „Allbarmherziger“ (Ar-Rahman bzw. Ar-Rahim) und die Gläubigen zur Barmherzigkeit aufruft: „Diejenigen, die nicht barmherzig sind, werden keine Barmherzigkeit erlangen.“
Barmherzigkeit bedeutet dabei, dem Schwachen aufzuhelfen, den Kleinen groß werden zu lassen, das vorhin angesprochenen Gefälle zu beseitigen, den Empfangenden als Subjekt anzunehmen und ihn nicht nur als Objekt meiner Wohltätigkeit zu „verwenden“.

In der kirchlichen Tradition kennen wir die sieben „leiblichen Werke“ der Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Dürstenden zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, Kranke und Gefangene besuchen, Tote begraben. Dazu kommen sieben „geistliche Werke“ der Barmherzigkeit: die Unwissenden lehren, den Zweifelnden recht raten, die Betrübten trösten, die Sünder zurechtweisen, die Lästigen geduldig ertragen, denen, die uns beleidigen, gerne verzeihen und für die Lebenden und die Toten beten.
Kardinal Walter Kasper führt dazu aus:  Barmherzigkeit „soll eine menschliche Grundhaltung werden. Dass wir Augen haben füreinander und nicht egozentrisch sind, ist auch eine Sache der Erziehung. Dazu gehören Herzensbildung, Selbstkritik, Nachdenklichkeit. Unsere individualistische Gesellschaft glaubt, es ginge darum, sich durchzusetzen. Es geht aber darum, diejenigen wahrzunehmen, die sich eben nicht durchsetzen können. Wer je bei den ganz Armen war, kehrt als anderer nach Hause zurück. Viele mögen sich dem nicht aussetzen, weil es unsere Lebensweise infrage stellt.“

Der Erfurter Bischof Joachim Wanke hat vorgeschlagen, wie wir heute die Werke der Barmherzigkeit interpretieren und als Herausforderung annehmen können:
„Einem Menschen sagen: Du gehörst dazu, ich höre dir zu, ich rede gut über dich, ich gehe ein Stück mit dir, ich teile mit dir, ich besuche dich, ich bete für dich.“ Hier wird deutlich, dass es um den Aufbau einer Beziehung zum Gegenüber geht, der eben nicht mehr als Opfer wahrgenommen wird, dem zu helfen ist, sondern mit dem wir unser Leben zu teilen beginnen.

Schließlich ist „Barmherzigkeit“ eines der Schlüsselworte im Pontifikat von Papst Franziskus: „Jesu Beziehungen zu den Menschen, die ihn umgeben, sind einzigartig und unwiederholbar. Seine Zeichen, gerade gegenüber den Sündern, Armen, Ausgestoßenen, Kranken und Leidenden, sind ein Lehrstück der Barmherzigkeit.“ Und ganz deutlich sagt er, worum es ihm geht: „nicht bloß geben, auch berühren“.

Zusammenfassend könnten wir sagen: Barmherzigkeit als christliche Grundhaltung verändert natürlich die sozialen Dimensionen der Welt, indem sie Ungerechtigkeit zu überwinden sucht und Armen hilft, aber sie verändert vor allem meine Beziehungen zu den Menschen und damit mich selbst, wenn ich bereit bin, mich berühren zu lassen.

„Nicht bloß geben, auch berühren“

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